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Kein Leben ist „lebensunwert“

Wie sehr die „Euthanasie“-Verbrechen der NS-Zeit die Menschen heute noch bewegen, das zeigte sich in der großen Zahl von über 100 Besuchern auf der Gedenkveranstaltung, die am Sonntagvormittag im Mehrzweckraum der Realschule stattfand und vom Schyren-Gymnasium organisiert wurde.

Etwa 300.000 behinderte Menschen fielen während des Zweiten Weltkriegs der „Aktion T4“ zum Opfer, so berichtete Professor Michael von Cranach in seinem Expertenvortrag. Cranach hat sich um die Aufdeckung der Verbrechen in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren verdient gemacht. Ihn beschäftigt seit langem die Frage, weshalb sich hochrangige Vertreter der deutschen Ärzteschaft der Selektionsideologie des Nationalsozialismus dienstbar machten.

Von Cranach rief dazu auf, das Leben von Behinderten als gleichberechtigte Form menschlichen Daseins zu betrachten – nicht als „fehlerhafte“ Existenz. Während des „Dritten Reiches“ hätten es viele Ärzte, auch aus einem pervertierten Verantwortungsgefühl heraus, als ihre Aufgabe begriffen, Menschen nach ihrem „Wert“ einzustufen; der „Gnadentod“ wurde dann zu einem bürokratischen Vorgang, einem Probelauf des Holocaust, wobei die Täter – dies ist das Schockierende! – zum Mitwirken keinesfalls gezwungen waren. Durch Gas, Unterernährung, medizinische Experimente und künstlich herbeigeführte Lungenentzündungen brachten sie ihre Opfer um.

Schockierend ist auch, dass verantwortliche Anstaltsleiter in der Bundesrepublik nicht nur unbehelligt weiterarbeiten konnten, sondern auch höchste Auszeichnungen erhielten. Erst Ende der Sechzigerjahre habe eine ernsthafte Aufarbeitung eingesetzt.

Im Publikumsgespräch wurde deutlich, dass im internationalen Vergleich heute in Deutschland besondere Sensibilität beim Thema Euthanasie herrscht, was auch auf die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte zurückzuführen ist. In Wortmeldungen aus dem Publikum wurden Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik genannt, die – bei allem Verständnis für die schwierige Situation betroffener Eltern – auch heute das Potenzial hätten, menschliches Leben nach seinem „Wert“ auszuwählen. Die Tendenz, einen Schwangerschaftsabbruch nach festgestellter Chromosomenschädigung schlicht als Selbstverständlichkeit zu betrachten, sei beunruhigend.

Der Vortrag wurde von Veronika Kettner im Namen der Fachschaft Geschichte des Schyren-Gymnasiums organisiert. Er stand in der Reihe der alljährlichen Gedenkveranstaltungen am Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945. Auch Schüler und Schülerinnen der neunten Jahrgangsstufe haben tatkräftig an der Gestaltung der Veranstaltung mitgewirkt. Den musikalischen Teil des Programms übernahmen Marie-Therese und Anna Daubner (Violoncello), Annette Wörmann (Harfe) und Christiane Sauer (Klavier).

Text und Foto: Roland Scheerer