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Zeitzeugengespräch zum Ende der DDR

Der dreißigste Jahrestag des Mauerfalls war Anlass für ein Podiumsgespräch am Freitagabend, das von der Fachschaft Geschichte des Schyren-Gymnasiums veranstaltet und von Veronika Kettner moderiert wurde. Zu Gast waren Daniel Kauf, Livia Schleßing und Grit Holzmüller als ehemalige DDR-Bürger, die den Mauerfall in unterschiedlichem Alter erlebt haben. Thema war vor allem der Alltag im Sozialismus.

Ob gemeinsame Schlaf- und Toilettenzeiten in der Kita bereits als Symptom des konformistisch-autoritären Staates zu sehen seien, blieb zwar offen. Einig waren sich die Gesprächsteilnehmer aber darin, dass der Überwachungsapparat in allen Lebensbereichen präsent war. So habe sich, wie Grit Holzmüller berichtet, in manchen Familien die Sorge, Kinder könnten zu Hause Besprochenes nach außen tragen, bis heute gehalten. Livia Schleßing sagte, sie schrecke davor zurück, ihre Stasi-Akten einzusehen. Sie sei sich nicht sicher, ob sie wissen wolle, welche Personen aus dem Bekanntenkreis damals für das MfS tätig waren. In durchschnittlich jeder Schulklasse habe ein Spitzel gesessen.

Was den Grad an Repression angeht, der man ausgesetzt war, sollte nicht verallgemeinert werden: Die Zeitzeugen konnten sich an begabte Jugendliche, denen ein Studium aus politischen Gründen verweigert wurde, ebenso erinnern wie an den Fall einer offen regimekritischen Mitschülerin, bei der dies gerade nicht der Fall war.

Am interessantesten und am schwierigsten war die Frage an die Gesprächsteilnehmer, ob in der DDR ihr Denken manipuliert worden sei. Einerseits, so berichtet Livia Schleßing, sei selbst in Staatsbürgerkunde gelegentlich freie Meinungsäußerung durchaus möglich gewesen – andererseits sei den Betroffenen manches Gewohnte und Selbstverständliche erst viele Jahre später befremdlich vorgekommen: Kinderlieder, die das Militär verherrlichten, und die Fahnenappelle im Ferienlager, an die sich Daniel Kauf erinnert. Es liege ja gerade im Wesen der Manipulation, dass man sie, während sie geschehe, nicht bemerke.

Die Wende selbst habe den DDR-Bürgern zweifellos ungeahnte Chancen eröffnet; Livia Schleßing und Grit Holzmüller konnten sich aber auch daran erinnern, dass in ihren Heimatorten die nachbarschaftliche Geselligkeit über Nacht verschwunden sei. An die Stelle eine stark ausgeprägten Gemeinschaftsgefühls sei damals eine befremdliche Ellenbogenmentalität getreten, mit der sich abzufinden bis heute schwer falle. Zudem relativierten sich manche Vorzüge des Westens dadurch, dass sie nur den Wohlhabenden offen stünden.

Die etwa fünfzig Besucher stellen den Teilnehmern in der Aula des Gymnasiums noch zahlreiche interessierte Fragen. Es wurde deutlich, dass die deutsche Einheit auch dreißig Jahre nach dem Mauerfall noch immer durch Gespräche und gegenseitiges Verstehen erarbeitet werden muss.

Text und Foto: Roland Scheerer